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Für die hochbetagten Überlebenden der NS-Judenverfolgung ist der Auschwitz-Prozess in Detmold eine Möglichkeit, vor einem Gericht Gehör zu finden. SS-Männer, die als Teil der Wachmannschaft ein auf die Tötung von Menschen ausgerichtetes System absicherten, seien am Massenmord beteiligt gewesen. Dieser im Kern simple Zusammenhang war von der deutschen Justiz jahrzehntelang nicht anerkannt worden, sie hatte Verfahren eingestellt oder es wurde erst gar nicht ermittelt. In der Schwurgerichts-Verhandlung gegen den heute 94jährigen ehemaligen SS-Wächter Reinhold Hanning, Rentner aus Lippe, haben die Überlebenden als Nebenkläger (Es gibt 57 Überlebende und Angehörige von Holocaust-Opfern, die in diesem Prozess Nebenkläger sind) auch persönlich Zeugnis abgelegt über die Greultaten in dem bekannten NS-Vernichtungslager:


  • Leon Schwarzbaum: Als 22jähriger wurde er in seinem oberschlesischen Dorf verhaftet und wie schon seine Familie nach Auschwitz deportiert. Bis heute verfolgen ihn Bilder brennender Schlote der Krematorien und von Menschen, die wie Vieh in die Gaskammern transportiert werden. Mit sehr direkten Worten richtet er sich an den Angeklagten: „Wir sind fast gleich alt, und wir stehen bald vor dem höchsten Richter. Ich möchte Sie auffordern, uns die historische Wahrheit zu erzählen.“ Heute lebt Schwarzbaum in Berlin.


  • Justin Sonder: Als 17jähriger, der sich vor der SS als Monteur ausgibt, überlebte er das KZ. Im Zeugenstand berichtet der 90jährige von der quälenden Todesangst, der er sich wieder und wieder ausgesetzt sah, wenn jene Häftlinge aussortiert und in die Gaskammern geschickt wurden, die schwach und krank waren. Auch die Willkür der SS-Wachleute schildert er: „Ich habe erlebt, wie Häftlinge erschossen wurden, weil sie aus der Reihe gelaufen sind.“ Heute lebt Sonder in Chemnitz.


  • Erna de Vries: „Auschwitz war Brüllen und Schlagen“, sagt die geborene Kaiserslauterin. Sie hatte darauf bestanden, ihre Mutter nach Auschwitz zu begleiten, ohne zu wissen, was sie erwartet. Mit 19 entging sie knapp der Vergasung. Sie sei kurzfristig von einem SS-Mann für einen Transport ins Lager Ravensbrück ausgewählt worden. „Wenn er zehn Minuten später gekommen wäre, wäre ich ins Gas gekommen.“ Die Mutter wurde ermordet. An ihre Worte beim Abschied erinnert sich die beim Prozess 92jährige: „Du wirst überleben, und du wirst erzählen, was man mit uns gemacht hat.“ Dem folgt die heute in Lathen im Emsland lebende Frau auch mit Vorträgen in Schulen.


  • Tibor Eisen („Max“ Eisen): Er war 15 Jahre alt, als er und seine Familie nach Auschwitz deportiert wurden. Dort wurde er unmittelbar mit der Grausamkeit der Wachleute konfrontiert: Als sich im Duschraum ein kurzsichtiger Häftling bückte, um seine heruntergefallene Brille zu suchen, trat ein Wachmann auf ihn ein, wieder und wieder]]: „Ich konnte seine Rippen krachen hören. Der Wachmann, völlig in Rage, trat und stampfte weiter auf den Mann ein, bis er tot war.“ Eisen selbst arbeitete zehn Stunden auf den Feldern, bei täglichen 200 Kalorien Nahrung. Als ihn der Gewehrkolben eines Wachmannes am Kopf traf, verschaffte ihm ein Mithäftling Schutz vor der Selektion]]: Mit einem weißen Kittel wurde er zum OP-Helfer und musste herausgebrochene Goldzähne und Füllungen säubern. Über die SS-Leute sagt er heute]]: „Jeder von ihnen war ein Rädchen in einer gut geölten Maschine der Zerstörung. Jeder spielte seine Rolle in der Entmenschlichung der Zwangsarbeiter, jeder trug damit zum Völkermord an den Juden bei.“ Eisen wanderte nach dem Krieg nach Toronto (Kanada) aus.


  • Irene Weiss: Sie wurde mit 13 mit ihrer Familie nach Auschwitz verschleppt. Im Lager erlebte sie, wie Wachleute grundlos Frauen auspeitschten oder ihre Hunde zur Belustigung auf die Gefangenen hetzten. „Es war offensichtlich, dass wir den SS-Wachmännern noch weniger wert waren als Sklaven.“ Fast alle Familienmitglieder starben in den Gaskammern. Heute lebt Frau Weiss in Virginia (USA).


  • Imre Lebovits: Der damals 15jährige gibt der ungarischen Führung des Jahres 1944 eine große Mitschuld an der Vernichtung von zwei Dritteln der ungarischen Juden. Während des Kriegs verlor er den Großteil seiner Familie, seine Mutter starb in Auschwitz. Wie damals viele Menschen in seiner Heimat über Juden dachten, hätten die Worte eines Ortsvorstehers gezeigt, berichtet der Mann aus Budapest. „Auf Wiedersehen als Kompost“, habe der vor dem Abtransport Hunderter Juden gesagt.


  • William Glied (Bill Glied): Der 85jährige Jude stammt aus dem heutigen Serbien. Als kleiner Junge wurde er mit seiner Familie in überfüllten Waggons von Ungarn nach Auschwitz gebracht. Die Erinnerung an die Ankunft an der Rampe verfolge ihn bis heute. Das brutale Chaos, Familien, die für immer getrennt wurden, SS-Leute, die auf die Ankommenden einschlugen. „Dieser Ort ist der stumme Zeuge des unglaublichen Ereignisses, dass eine kleine Gruppe Männer, unterstützt von ein paar Tausend SS-Männern, die den Ort bewachten, unschuldige Menschen zu einem schrecklichen Tode verurteilten“, übersetzten die Dolmetscher Glieds englischsprachige Aussage. Heute lebt er in Toronto.


  • Mordechai Eldar: Er war 13, als er an der Rampe in Auschwitz von seinen Eltern und Brüdern getrennt wurde. Eindrücklich schilderte er die Gewalttätigkeit der zu Aufsehern gemachten Blockältesten unter den Gefangenen. „Wer nicht schnell genug auf die Pritschen sprang, wurde geschlagen. Wer sprach, wurde geschlagen. Wer nachts auf die Latrine ging, wurde geschlagen.“ Auch von sexuellem Missbrauch an Kindern und Schaukämpfen, zu denen Gefangene gezwungen wurden, berichtet Eldar, der heute Israeli ist.


  • Ben Lesser: „Ich war etwa zehn Jahre alt, als meine Welt zusammenbrach, als die Nazis einmarschierten.“ Lessers Geschichte fing in Polen an. 1943 flüchtete er als 14jähriger im doppelten Boden eines Lkw nach Ungarn. Ein Jahr später wurde er nach Auschwitz deportiert und erlebte Grauenvolles. Nachts habe er Feuerschein beobachtet und Kinderschreie gehört. Man habe ihm erklärt, dass Leichen aus den Gaskammern in Feuergruben verbrannt und darauf Kinder geworfen würden. Lesser, der in Las Vegas lebt, appellierte an alle Zuhörer im Gericht]]: „Sie gehören zu den letzten Menschen, die Aussagen noch von Überlebenden direkt hören können.“ Die Hörer sollten es nutzen, damit es keinen weiteren Holocaust gebe.


  • Angela Orosz Richt-Bein: Die 72jährige wurde 1945 in Auschwitz geboren. Sie ist eines von nur zwei dort zur Welt gekommenen Kindern, die das KZ überlebten. Trotz der Sterilisierungsexperimente, die Lagerarzt Josef Mengele an ihrer Mutter vorgenommen habe, kam sie zur Welt. Die SS bekam von der Geburt nichts mit, weil die kleine Angela nur ein Kilo wog und nicht habe schreien können. Fünf Wochen später sei Auschwitz befreit worden. „Nach einem Jahr habe ich drei Kilo gewogen, so viel wie andere Kinder bei der Geburt.“ Erst nach Jahren habe sie gehen können.


  • Hedy Bohm: Die 87jährige war als Jugendliche mit ihren Eltern nach Auschwitz deportiert worden. Die Eltern habe sie seit der Ankunft dort nie mehr wiedergesehen, berichtet sie im Gericht. Sie selbst sei nach Monaten mit anderen Gefangenen zur Zwangsarbeit in eine Munitionsfabrik nach Fallersleben gebracht worden. Zuvor war die Gruppe offenbar schon zur Ermordung in der Gaskammer vorgesehen, der Befehl wurde aber vermutlich kurzfristig abgeändert, sagte ein Anwalt der Nebenklage. Bohm, die heute in Toronto lebt, fordert im Gericht wie schon andere Zeugen den Angeklagten Hanning auf, ihr in die Augen zu sehen. Der 94jährige blickt aber auch dieses Mal nicht auf.



(Material von dpa, mai 2016)

Das Verfahren[]

Das Landgericht Detmold im Februar 2016 zur Anklageerhebung wegen der Morde in Auschwitz (PRESSEMITTEILUNG) Die Staatsanwaltschaft Dortmund – Zentralstelle im Land Nordrhein-Westfalen für die Bearbeitung von nationalsozialistischen Massenverbrechen – hat Anklage wegen Beihilfe zum Mord in mindestens 170.000 Fällen in der Zeit von Januar 1943 bis Juni 1944 in Auschwitz/Polen erhoben.

Der Angeklagte soll im Januar 1942 in das Konzentrationslager Auschwitz versetzt wor- den sein. Dort soll er zunächst der 5. und später der 3. Kompanie des SS- Totenkopfsturmbanns Auschwitz angehört haben, zuletzt als SS-Unterscharführer. Als Angehöriger des SS-Totenkopfsturmbanns soll der Angeklagte unter anderem für die Bewachung des Lagers Auschwitz I (Stammlager) zuständig gewesen sein. Daneben hätte er als Wachmannschaftsangehöriger im Rahmen von regelmäßigen Bereitschaftsdiensten bei ankommenden Transporten von Gefangenen deren Ausladung und Selektion zu bewachen gehabt – auch für das Lager Auschwitz II (Birkenau).


Durch seine Tätigkeit als Angehöriger der Wachmannschaft soll der Angeklagte zu fol- genden Tötungshandlungen Beihilfe geleistet haben:

(1) „Ungarn-Aktion“[]

In der Zeit von Mai bis Juni 1944 trafen circa 92 Transporte aus Ungarn in Auschwitz ein. Die jüdischen Deportationsopfer wurden wenige Minuten nach ihrer Ankunft zur Selektion auseinandergetrieben. Die als nicht arbeitsfähig eingestuften Menschen – Alte, Kranke, Schwangere und Kinder – wurden in der Regel binnen fünf Stunden nach ihrer Ankunft in die Gaskammer getrieben und ihre Leichen anschließend in den Krematorium-Öfen oder in Gruben verbrannt. Die seltenen Fluchtversuche wur- den sofort von den Bewachungskommandos mit brutaler Gewalt beendet.

(2) Massenerschießungen[]

Im Block 11 des Lagers Auschwitz I befand sich ab Juli 1940 im Kellergeschoss das Lagergefängnis. Im Hof neben diesem Block fanden aufgrund des Entschlusses der Lagerleitung und des Leiters des Gefängnisses immer wieder regelmäßig – fast an jedem Wochenende – Massenerschießungen statt.

(3) Selektionen[]

Aufgrund des Entschlusses der SS-Führung und der Lagerleitung kam es im Lager Auschwitz I zu Selektionen, bei denen kranke und schwache Gefangene aussortiert und überwiegend zur Tötung in die Gaskammern verbracht wurden.

(4) Lebensverhältnisse[]

Nach der Entscheidung der SS-Führung und der Lagerleitung sollten die Lebensver- hältnisse im Konzentrationslager – schlechte Unterbringungsverhältnisse, mangelnde Nahrung und Kleidung, unzureichende hygienische Verhältnisse und medizinische Versorgung, schwere körperliche Arbeit – bewirken, dass die in das Lager gebrachten Gefangenen dieses nicht wieder lebend verließen.


Dem Angeklagten sollen sämtliche Tötungsmethoden bekannt gewesen sein. Ihm sei bewusst gewesen, dass diese ständig bei einer hohen Zahl von Menschen angewandt worden seien und dass auf diese Art und Weise und mit der geschehenen Regelmäßigkeit nur getötet habe werden können, wenn die Opfer durch Gehilfen wie ihn bewacht wurden. Der Angeklagte habe mit seiner Wachdiensttätigkeit die vieltausendfach geschehenen Tötungen der Lagerinsassen durch die Haupttäter fördern oder zumindest erleichtern wollen.


Der Angeklagte hat zwar eingeräumt, in Auschwitz I eingesetzt gewesen zu sein. Er be- streitet jedoch, sich an den Tötungshandlungen beteiligt zu haben.

Die Anklage vom 10. Februar 2015 ist dem Angeklagten nunmehr zur Stellungnahme binnen sechs Wochen zugestellt worden. Binnen dieser Frist konnte er die Vornahme einzelner Beweiserhebungen vor der Entscheidung über die Eröffnung des Hauptverfahrens beantragen oder Einwendungen gegen die Eröffnung des Hauptverfahrens vorbringen. ……

Die Pressestelle des Landgerichts Detmold

(Das Verfahren wurde eröffnet.)

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